Gefühlsstark, sensibel oder ADHS? – Warum Eltern für Labels dankbar sind und Fachkräfte genauer hinschauen sollten

Gefühlsstarke Kinder, sensible Kinder oder Kinder mit ADHS-Verdacht – viele Eltern suchen heute nach Begriffen, die das Verhalten ihres Kindes besser greifbar machen.

In meiner Arbeit als Elterncoach begegne ich immer wieder Familien, die sich lange gefragt haben: „Warum ist unser Alltag mit diesem Kind so intensiv, so herausfordernd, so anders?“

Begriffe -oder Label– wie „gefühlsstark“ oder „sensibel“ können für Eltern ein erster Schritt zur Entlastung sein. Sie geben Orientierung, schaffen Raum für Austausch und helfen dabei, die eigenen Erfahrungen besser einzuordnen.

Gleichzeitig beobachte ich, wie Fachkräfte in Kitas oder Schulen oft skeptisch oder sogar ablehnend reagieren, wenn Eltern mit solchen Labels um die Ecke kommen. Warum Eltern solche Begriffe trotzdem brauchen – und warum Fachkräfte gerade dann genau hinschauen sollten – darum geht es mir.

Warum Eltern nach Labels suchen

Hinter fast jeder Selbstbeschreibung steckt eine Geschichte. Eine Phase voller Unsicherheiten, Ratlosigkeit und Erschöpfung. Wo Eltern lange nicht verstanden haben, warum ihr Kind „anders“ reagiert als andere. Das Label – ob „gefühlsstark“ oder „sensibel“ – ist für viele Eltern erstmal ein Stück Entlastung. Es bringt eine Erklärung. Es zeigt: „Ich bin nicht allein. Mein Kind ist nicht kaputt. Und ich habe nicht versagt.“ Gleichzeitig eröffnen sich dadurch neue Perspektiven: Austausch mit anderen Eltern, neue Handlungsoptionen und der Mut, über den eigenen Alltag zu sprechen.

Was mich an manchen Reaktionen von Fachkräften und Öffentlichkeit ärgert

Leider erlebe ich immer wieder, wie Eltern, die solche Begriffe verwenden, direkt in die nächste Schublade gesteckt werden:

„Die sind überängstlich.“

„Typisch Helikopter.“

„Da wird wieder alles pathologisiert.“

Was dabei übersehen wird: Hinter der Entscheidung, ein Thema überhaupt in der Kita oder bei Fachkräften anzusprechen, steckt oft monatelanges Ringen. Oft haben Eltern lange gezögert, gehadert und abgewogen. Und statt mit Offenheit oder wenigstens mit ehrlichem Interesse zu reagieren, werden sie dann – bewusst oder unbewusst – abgewertet oder belächelt. Manchmal mit dem Etikett: „Die wollen jetzt eine Extrawurst für ihr Kind.“ Oder schlimmer noch: „Das ist bestimmt alles nur Erziehungssache.“

Chancen durch „Schubladen“

Natürlich: keine (wenn auch selbstgewählte) Schublade der Welt ersetzt eine fundierte Beobachtung oder gar eine Diagnose.

Aber: diese Begriffe können Türen öffnen! Sie helfen Eltern, über Themen zu sprechen, für die sie vorher keine Worte hatten. Und sie können auch für Fachkräfte ein Anlass sein, genauer hinzuschauen: Was braucht dieses Kind? Und wie können wir als Team und Institution darauf reagieren? Gleichzeitig haben diese Zuschreibungen gesellschaftlich eine wichtige Funktion: Sie helfen, festgefahrene Normen und veraltete Vorstellungen von „gutem Benehmen“ oder „sozialer Angepasstheit“ aufzubrechen. Denn viele der heute sichtbaren Herausforderungen von Kindern sind nicht neu – sie werden nur endlich benannt!

Risiken und Stolpersteine

Natürlich birgt jedes Label auch Gefahren:

  • Kinder können eben dann genau darauf reduziert werden,
  • Eltern könnten sich zu sehr auf eine einzige Erklärung fokussieren,
  • beziehungsweise könnte es die Bereitschaft beschränken, auch alternative Blickwinkel einzunehmen.

Deshalb geht es nicht darum, Labels unkritisch zu feiern – sondern darum, sie bewusst und reflektiert zu nutzen.

Was ich mir von Fachkräften wünsche

Ich wünsche mir mehr Offenheit und Neugier. Mehr echtes Zuhören. Mehr Selbstreflexion: „Warum triggert mich dieses Thema gerade?“ Und die Bereitschaft, Informations- oder Weiterbildungsangebote wahrzunehmen. Denn: Wenn Eltern schon den Mut haben, ein Thema offen anzusprechen, dann ist das immer auch eine Einladung an die Institution, genauer hinzusehen.

Fazit: Labels sind am Ende eben nicht einfach Schubladen – sondern manchmal die erste Tür zu Veränderung.

Es geht nicht um Schwarz oder Weiß. Nicht um richtig oder falsch. Sondern darum, Eltern UND Kinder als Menschen mit Bedürfnissen, Sorgen und Stärken zu sehen. Und gemeinsam Wege zu finden, die für alle Beteiligten leichter werden.

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